top of page

Füfzgi und meh - Julia Hofstetter porträtiert Raquel Herzog

Die Blog Serie der Zürcher Biologin und Gemeinderätin (Grüne). Julia Hofstetter präsentiert in kurzen Porträts Frauen, die im Alter von «fuefzgi und meh» beruflich noch einmal etwas Neues angepackt haben.


Illustration: Julia Hofstetter

Raquel Herzog war aufgewühlt: «Ich ging zu Bett und als ich das Licht löschte, merkte ich, dass dieses Bild mich nicht in Ruhe liess. Mir wurde bewusst, ich kann mich nicht mehr vor dem Computer oder Fernseher entsetzen und dann einfach in mein warmes Bett schlüpfen.» Es war der 3. September 2015. Das Bild von Aylan Kurdi ging um die Welt. Der Dreijährige starb zusammen mit seinem fünf Jahre alten Bruder Galip und seiner Mutter Rehan auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien im ägäischen Meer. Seine Leiche wurde an den Strand von Bodrum geschwemmt. Raquel stand in dieser Septembernacht noch einmal auf, klappte den Computer auf und buchte ein Ticket nach Lesbos: «Einen Monat später begann nur Stunden nach meiner Landung meine Zeit als freiwillige Seenotretterin auf Lesbos.» Bald darauf gründete sie die NGO «SAO Association- für Frauen auf der Flucht», die heute in Griechenland 18 Mitarbeiterinnen zählt. Der Fokus auf Frauen ist aus der Begegnung mit der 93-jährigen Amina und ihren 4 Enkelinnen (18-23) entstanden, die Raquel am internationalen Frauentag 2016 nach 4 Stunden Suche in einem kleinen Fischerdorf fand. Raquel und die 5 kurdischen Frauen teilten sich für 4 Monate eine Wohnung auf Lesbos. «Das hat mir die Augen für die spezifischen Probleme, denen Frauen auf der Flucht ausgesetzt sind, geöffnet»


Besonders stolz ist Raquel Herzog auf ihre Mitarbeiterinnen im Feld: «Dadurch, dass wir auf Trauma-orientierte, psychosoziale Unterstützung für allein flüchtende Frauen und Mütter spezialisiert sind, sind unsere Mitarbeiterinnen täglich mit den schrecklichen Erlebnissen der Frauen konfrontiert. Flüchtende Frauen sind Krieg, Verfolgung, Menschenhandel, geschlechtsspezifischer Gewalt und manchmal sogar Folter ausgesetzt. Das muss man verarbeiten können. Ich bin immer wieder sehr berührt von der schönen Stimmung in unseren beiden Schutzzentren und ich weiss, dass wir für einzelne Frauen Entscheidendes erreichen können.» Im Bashria Centre auf Lesbos erhalten allein flüchtende Frauen, die im Lager Moria2.0 leben, einen Rückzugsort und dringend benötigte Unterstützung. Die Zustände im provisorischen Zeltlager sind desolat, es fehlt an allem, auch am Nötigsten, Gewalt und Belästigungen sind alltäglich.


Raquel Herzog sagt: «Die Situation von Geflüchteten in Griechenland hat sich in den fünf Jahren meiner Tätigkeit zunehmend verschlechtert - das macht mich ohnmächtig und auch hässig. Man muss sich aber immer wieder darauf konzentrieren, dass man im Kleinen, für eine einzelne krebskranke Frau und ihr Kind zum Beispiel etwas Wichtiges tun kann.“

Im Amina Centre in Athen unterstützt das Team von SAO Frauen, die als verletzlich anerkannt wurden oder Asyl bekommen haben. Sie werden dabei unterstützt, in Griechenland richtig Fuss zu fassen. Die staatliche Unterstützung, die Geflüchtete dann noch bekommen ist sehr limitiert, so das 30% der registrierten Frauen im Amina Centre aktuell obdachlos sind, was besonders in der aktuellen Corona-Situation dramatisch ist.


«Ja», sagt Raquel Herzog, «es gibt immer wieder Momente, in denen ich aufgeben möchte, mich wieder einer "leichteren Kost" widmen möchte - aber es ist im Team immer eine da, die noch Energie hat und die anderen wieder mitzieht. Und ehrlich gesagt, kann ich's auch nicht lassen, diesem Zeitgeist etwas entgegen zu halten und immer wieder an die Menschlichkeit zu appellieren. Es wird immer noch viel zu wenig über Frauen auf der Flucht geredet - das soll sich ändern!“ Raquel Herzog war 20 Jahre selbständig im Live Entertainment Business tätig, als Fernseh-Produzentin, in der Produktionsleitung von Freilicht-Opern, als Variétédirektorin, als Regieassistentin bei Musicals. „Ich war also schon immer in einem Umfeld tätig, wo Improvisationstalent und Troubleshooting-Qualitäten gefragt waren – das kommt mir jetzt zugute. Anfangs liess ich meine Einzelfirma parallel weiterlaufen, Ende 2016 habe ich diese Tätigkeit dann ganz aufgegeben, weil mich die innere Aufmerksamkeit immer wieder nach Lesbos zog.“


Und SAO entwickelt sich weiter. Mit dem Programm «Back on Track» werden zum einen bereits 3 geflüchtete Studentinnen bei der Fortführung ihres Studiums in Europa unterstützt. Anderseits wird an einem Konzept gearbeitet, das geflüchteten Frauen in Griechenland mittels gezielten Workshops zur Kompetenzentwicklung bei der Sicherung ihrer Existenz unterstützen soll. Raquel fügt hinzu: «Wir sind organisatorisch gut aufgestellt und "ich mag no es paar Jöhrli" - mir ist wichtig, dass junge Frauen bei uns einsteigen, die in ein paar Jahren übernehmen können - es gibt ja so viele tolle, initiative, junge Frauen.» Die Aufgabe bleibt: Einen Beitrag zu leisten, für diejenigen Frauen, die es am allerschwersten haben.


Zürich, Januar 2020

bottom of page