Lisa, die 18 jährige Tochter von Michèle, begleitete Raquel und Michèle auf ihrer Reise nach Griechenland. In diesem ersten Teil gibt sie einen Einblick in ihre Erlebnisse und Eindrücke aus dem Bashira Centre auf Lesbos.
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Bashira. Nicht nur ein wunderschöner Name, sondern auch ein wunderschöner Ort. Er ist zwar einiges kleiner als Amina, doch durch die frische Mini-Gärtnerei im Eingangsbereich und die bunte Wanddekoration ist das auch vollkommen egal. Im Gegenteil: Das Center wirkt wie eine gemütliche Stube. Familiär und sonnig. Bestimmt liegt das aber auch an Anna – der Programmmanagerin von Bashira - und den weiteren Mitarbeiterinnen. Als Leiterin des Bashira Centers und trotz ihren jungen 41 Jahren, übernimmt A. fast schon die Mutterrolle. Sie schaut immer, dass es allen wohl ist. Sie macht uns Eiskaffee und J. der Dolmetscherin einen Orangensaft, wenn sie sich gerade nicht so wohl fühlt. Sie weiss viel, sehr viel. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich sie mit baffem Gesicht anschaue, während sie mich mit der Asylsituation hier auf Lesbos vertraut macht. Sie weiss, wovon sie spricht, das merkt man.
Aber auch die freiwillige Helferin ist umwerfend. Beim Malkurs werden etliche Farben ausgepackt, Vorlagen und Schablonen bereitgestellt und für ein aufgelockerte Atmosphäre rhythmische Musik aufgelegt . Zuerst malen einige Mütter, während ihre Kinder spielen und danach sind die Jungen an der Reihe. Es wird gekritzelt, gemalt und gezeichnet, was das Zeug hält, und ds Ergebnis wird mir zum Schluss voller Freude vorgestellt. Ein Junge schenkt mir sogar seine Zeichnung von seinem Traumhaus hier in Mytilini (Hafenstadt von Lesbos) indem er sagt: „Teacher, this is for you.“ In nur wenigen Stunden wurde ich zu ihrer „Lehrerin“, was mein Herz berührt. Und mich ganz stark hoffen lässt, dass sie in ihrer Zukunft noch viele Lehrerinnen sehen werden.
Die älteren Frauen sind mittlerweile schon anderswo kreativ. Im Wohnzimmer knüpfen sie Armbänder und unterhalten ich. Darunter ist auch S., die sich sofort vorstellt und gesprächig von ihrem Alltag erzählt. Wenn möglich kommt sie jeden Tag hierher, es sei schön in Ruhe duschen zu können und eine Abwechslung vom Essen im Camp zu geniessen. Dieses sei nämlich kaum essbar - das glaube ich ihr sofort. Eine andere Frau neben mir trägt ein sehr dickes, wunderschönes Armband aus Garn und ich frage sie erstaunt, ob sie das selbst gemacht habe. Sie meint mit leiser Stimme: „Yes, all here“ und mir wird auf einen Schlag klar, wieviel Zeit die Frauen hier verbringen. Wieviel dann erst im Camp, wo sie keine Armbänder knüpfen können? Später probiere ich selbst auch ein Armband zu machen, leider nicht annähernd so schön wie ihres. Die Frauen schauen mich alle mit einem Schmunzeln an und meinen es sei bloss eine Sache der Übung. Gemeinsam brechen wir in Gelächter aus.
Knallorange sind die Westen, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir halten an und ich spüre, wie ich Gänsehaut kriege bei deren Anblick. Es sind um die acht Schwimmwesten, ein kaputtes Gummiboot, zerfetzte Hosen und einige Pet-Flaschen, die sich am Ufer angesammelt haben. Zwei der Westen leuchten noch so grell, sie scheinen erst vor Kurzem hier gestrandet zu sein. Der Rest beginnt schon mit den Kieselsteinen zu verschmelzen.
2015 sahen auch die bisherigen 10km, die wir schon zurückgelegt haben, so aus. Wie eine orange Schlange, ein Boot nach dem anderen, meint Raquel, die Gründerin von SAO. Sie hat es mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib miterlebt, als sie während der Flüchtlingswelle, ausgelöst durch den syrischen Bürgerkrieg, hier ankommende Bootsflüchtlinge empfing. Viele Menschen kamen damals, um zu helfen: Trockene Kleidung verteilen, erste Hilfe leisten, ... Bus um Bus brachten sie überanstrengte und traumatisierte Frauen, Männer und Kinder in das damalige Flüchtlingscamp Moria. Bis es 2020 bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist. Verkohlte Bäume und Grundrisse alter Sanitäranlagen sind übrig geblieben. Der Anblick ist erschreckend. Hier sollen bis zu 20.000 Personen gelebt haben, obwohl das etwas mehr als vier Hektar grosse Camp für eigentlich nur ca. 2300 Personen ausgelegt war. Und das alles auf so kleinem Raum? Bei dieser Vorstellung wird mir schlecht.
Ich gehe weiter und sehe an den Stacheldrähten nach oben. Ungewollt trete ich immer wieder auf übrig gebliebene Kleiderfetzen oder Abfall, bis ich an einem einzelnen pinken Kinderschuh stehen bleibe. In meinem Kopf spielt sich plötzlich die Szenerie ab, wie ein Kind in der Massenpanik des Feuers mitgezerrt wird und nur der pinke Hausschuh zurückbleibt. Ich probiere das Bild aus meinem Kopf zu löschen und denke, was ein Wunder es ist, dass bei diesem Unglück niemand ums Leben gekommen ist.
„To all the women out there: stay strong and keep on fighting“. Das wolle sie der Welt mitteilen. Einfache Worte, mit jedoch solch einer starken Aussage. Und schon rollen mir die Tränen über die Wangen. Diese Frau sitzt seit fünf Jahren auf der Insel Lesbos fest und hat schon unzählige Ablehnungen erhalten. Sie hat Dinge auf ihrer Flucht durchgemacht, die unzumutbar sind und trotzdem steht sie hier und heute vor mir und sagt mit glasigen Augen, wir sollen nicht aufgeben? Ich bin schwerst beeindruckt und gerührt. Obwohl wir uns vielleicht gerade mal seit knapp einer halben Stunde kennen, fühlt es sich wie das natürlichste dieser Welt an, sie zu umarmen und sich gegenseitig die Tränen aus den Augen zu wischen. Sie meint, ich sei wie ihre Tochter. Und schon schmunzeln wir wieder. Ich finde es eindrücklich, wie schnell die Emotionen ändern oder gar ineinanderfliessen: Tränen, Lachen und eine Sekunde später beides zusammen. Wenn dieser Emotionsumschwung nur schon für mich so überwältigend ist, was für ein emotionales Chaos muss sie wohl in diesen fünf Jahren erlebt haben, frage ich mich.
Eine zierliche Hand umfasst mein Handgelenk:“For you my lady.“ Eine junge Frau, mit der ich zuvor am Tisch sass und zusammen Garne geflechtet hatte, legt mir ein wunderschönes Armband um. Etwas überrascht sehe ich hoch und sehe den liebevollen Ausdruck, der auf ihrem hübschen Gesicht liegt. Ich danke ihr und sage, dass ich mich riesig freue. Ihrer Reaktion nach scheint sie mich nicht wirklich zu verstehen, also gebe ich ihr eine grosse Umarmung zum Dank. Sie nickt schüchtern, verlegen lächelt sie und kehrt schliesslich wieder zurück zu ihrem Sitzplatz. Neuer Faden und Perlen werden gefasst und ich beobachte, wie langsam ein neues Kunstwerk entsteht. Ich sehe an meinem Arm runter und muss beim Anblick der pinken und weissen Perlen schmunzeln. Mit welcher Selbstverständlichkeit sie einer beinahe noch fremden Person ein so schönes Geschenk gemacht hat, berührt mich immer wieder aufs Neue.
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Danke für diesen schönen emotionalen Einblick Lisa! Wir freuen uns auf den zweiten Teil, wo du von Amina berichten wirst!
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